Genieße den Blick von oben

Impuls #2 zur 40-Tage-Zeit // Zeit zu fliegen

Auch zum Hören:

Impuls #2: „Genieße den Blick von oben“ von Jürgen Maubach (MP3)

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Einer der schönsten Augenblicke des Tages ist es für mich, wenn ich mich vor dem Frühstücken auf den Balkon stelle und in den Morgenhimmel schaue. Ich genieße es, wenn der Wind dann um meine Nase streicht und mir den letzten Schlaf aus dem Gesicht bläst. Die ersten Atemzüge der kühlen Luft sind köstlich, während meine Augen am Horizont die ersten Lichtstreifen suchen. Und wenn ich Glück habe, dann ziehen ihre schwarzen Schatten schon krächzend ihre Bahn am Himmel. Guten Morgen, ihr Raben, meine Freunde. Was muss das für ein Gefühl sein, die erwachende Stadt von dort oben zu erleben. Wie ist es überhaupt, die Welt im Fluge mit diesem Abstand, diesem Überblick zu betrachten?

Diese besondere Eigenschaft machte die Vögel – unter ihnen ganz besonders die Raben – in den Augen der Menschen zu Götterboten. Die nordische Mythologie kennt die Raben Hugin und Munin als Begleiter des Göttervaters Odin. Ihre Namen bedeuten sinngemäß Hugin “der Gedanke, der Sinn” und Munin “die Erinnerung”. In der Snorra-Edda, der berühmten isländischen Dichtung aus dem 13. Jahrhundert heißt es:

„Zwei Raben sitzen auf seinen [Odins] Schultern und sagen ihm alles ins Ohr, was sie sehen und hören. Sie heißen Hugin und Munin. Bei Tagesanbruch entsendet er sie, um über die ganze Welt zu fliegen, und zur Frühstückszeit kehren sie zurück. Von ihnen erfährt er viele Neuigkeiten.“

Die oberste Göttergestalt der nordischen Mythologie nutzt den Weitblick der Raben in Zeit und Raum, um Weisheit und Erkenntnis zu erlangen.

Wie wohltuend schon ein Minimum an Abstand sein kann, erfahre ich im täglichen Umgang z.B. mit meinen Kindern. Wenn sie mich mal wieder so richtig auf die Palme gebracht haben, dann hilft oft nur noch, rausgehen und tief durchatmen. Der Umgebungswechsel und ein paar Minuten verändern oft schon Entscheidendes. Danach hat sich auf beiden Seiten etwas verändert, so dass ein neuer Anlauf gelingen kann.

Eine andere imaginäre Abstandsübung hilft mir dagegen bei schwierigen Entscheidungen.

Dann stelle ich mir vor, ich würde in 3 Monaten, in einem Jahr, in 5 Jahren, in 20 Jahren auf die zu entscheidende Frage schauen. Es ist, als würde ich in Gedanken wie im Flug immer höher steigen und einen größeren Ausschnitt meines Lebens überblicken. Was würde ich dann über meine jetzigen Fragen und Zweifel sagen? Auch wenn ich natürlich nicht in die Zukunft schauen kann, hilft mir der Blick aus der Entfernung, das jetzt übermächtig erscheinende Problem in der Wichtigkeit für mein Leben zu relativieren und meine Gelassenheit wieder zu gewinnen, mit der sich eine Entscheidung treffen lässt.

Von dieser weisen Gelassenheit erzählt auch das biblische Buch Kohelet oder der Prediger Salomo. Hier sinniert ein Weisheitslehrer, ein biblischer Philosoph, nachdem er sich alles angeschaut hat, alles ausprobiert hat, über den Sinn des Lebens und kommt zu dem Schluss:

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. (Koh 3,1-8)

Diese Zeilen klingen so leicht, so gelassen, so selbstverständlich. Jeder könnte sie unterschreiben und sagen: Ja, so ist das Leben!

Kohelet beobachtet und beschreibt es nur wie aus großer Flughöhe. Er nimmt alles wie es ist und wertet nicht. Er wird nicht moralisch, so wie wir es in Religion und Kirche leider oft erleben. Vielleicht liegt darin auch der ganz besondere Reiz, den dieser Text auf uns postmoderne Menschen hat. Bei ihm fühle ich mich in meiner Selbstständigkeit und Freiheit ernst genommen. Dieser Text atmet für mich diese Gelassenheit, die ich mir oft als Lebenshaltung wünsche.

Aber was entdeckt er konkret?

  1. Auch wenn wir oft glauben, die Zeit rennt uns weg, alles hat seine Zeit.
  2. So chaotisch unser Leben manchmal scheint, hinter allem steckt eine Ordnung. Das Leben ist nach Kohelet aufgeteilt in 14 Gegensatzpaare. Sie helfen die Vielfalt des Lebens wahrzunehmen und auszukosten.
  3. Vieles scheint uns oft einseitig und ungerecht. Auf’s Ganze gesehen ist bei Kohelet aber alles in guter Balance. Jede Zeit ist nur ein Teil des Ganzen. Die Zeiten gleichen sich aus.
  4. Es kommt nicht alles auf einmal im Leben, wenn das eine dran ist, ist das andere nicht dran. Das entlastet. Gott überfordert nicht.
  5. Alles hat sein Gegengewicht: das Schwere das Leichte, das Süße das Bittere. Es dient der Korrektur und Profilierung. Jede Erfahrung ist ein wichtiger Raum unseres Lebens und markiert eine wichtige Grenze. Ohne sie wird das Leben flach.
  6. In den Polaritäten gewinnt das Leben nicht nur Weite und Vielfalt, sondern auch Tiefe. Den tieferen Sinn in den Zeiten zu entdecken, ist die Herausforderung unseres Lebens. Und ich kann glücklich sein, wenn ich im Rückblick meines Lebens sagen kann: Alles darin war der Mühe wert, wo ich ganz da war.

Aber der Text würde nicht in unserer Bibel stehen, wenn alles nach dem Motto ablaufen würde: Alles im Leben kommt und geht. Du musst es hinnehmen. Wir können nichts dagegen tun. Kohelet ist kein Nihilist. Für ihn steht dahinter keine unpersönliche, undurchschaubare Macht, kein herzloses Schicksal, dem wir egal sind. Kohelet bringt diese Beobachtungen in Verbindung mit dem Geheimnis, das als Urgrund unser Leben trägt: Gott. So kommt er zu dem Schluss:

Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan.
Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt,
doch ohne dass der Mensch das Tun,
das Gott getan hat,
von seinem Anfang bis zu seinem Ende wieder finden könnte. (Koh 3,11)

Das heißt, die Zeiten für dies und das, von denen er spricht, sind von Gott eingebettet in SEINE Zeit und SEINE Ordnung. Das ist für ihn der Rahmen, in dem wir in unserer Freiheit und Selbstständigkeit getragen sind.

Und was folgt für Kohelet daraus nun?

Ich hatte erkannt:
Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück,
es sei denn,
ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück,
während er noch lebt,
wobei zugleich immer,
wenn ein Mensch isst und trinkt
und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennen lernt,
das ein Geschenk Gottes ist. (Koh 3,12.13)

Das ist die Lebenskunst nach Kohelet:
mich an dem freuen und es in vollen Zügen ausleben, was mir heute geschenkt ist.

Der Blick von oben kann mir die Gelassenheit und das Vertrauen schenken. Aber zum Leben muss ich wieder auf den Boden zurück, ins Hier und Jetzt, – vielleicht dann mit einem verwandelten, weiteren Herzen. Das wünsche ich euch!

Jürgen Maubach, Zeitfenster Aachen

 

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