Freiheit aushalten

IMG_7267Zeitfenster auf der Fachtagung am 9./10. März in Berlin:

Neue Gemeinschaftsformen im urbanen Raum,

veranstaltet von der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, dem Institut M.-Dominique Chenu und der Philosophisch-Theologische Hochschule Münster.

Ein persönliches Résumé von Jürgen Maubach.

Das Wichtigste vorab: Wer sich auf Veränderungen einlassen kann, für den gab es spannende und ermutigende Anregungen. Im Einzelnen:

// Dr. Hanno Rauterberg (ZEIT, Hamburg, Feuilleton) ging von einer Krise des Öffentlichen aus und zeigte gleichzeitig neue Phänomene des Öffentlichen, z.B. neue Formen kollektiver Trauer nach Anschlägen, Pegida-Demos und ihre Gegenkräfte, aber auch die große Süd-Nord Fluchtbewegung vor Bürgerkrieg und Klimafolgen. In diesem Umfeld machte er einen neuen Trend zum Teilen aus, dargestellt am Wandel der BMW-Kampagnen. Früher „Freude am Fahren“, das Auto als Solitär in der Wüste, heute „Freude ist zum Teilen da.“, das Auto als Störfaktor in einem engen Hinterhof, wo Kinder spielen und Menschen gärtnern. Erkenntnis: Die Menschen wollen im überschaubaren Nahbereich des Lebens Bodenhaftung, die Dinge berühren und selber in die Hand nehmen. Nicht nur interessant für die Autoindustrie, das „Freiheitsversprechen“ ist auf das Smartphone übergegangen. Mobilität wird neu definiert. Auch die Stadt als „Körper“ wandelt sich, die Bilder von ihr verändern sich. Nicht mehr die „Hülle“ oder Funktion interessiert, sondern die Beziehung zum Lebensraum, die in kollektiven Erfahrungen geteilt wird. Es ist eine Urbanisierung von unten zu beobachten, Grillen in Parks, Liegestühle auf Verkehrsinseln, eine „Mediterranisierung“. Menschen entwickeln an vielen Stellen eigene Ideen für die Flächen ihrer Stadt und erobern die öffentlichen und privaten Stadträume. Es gibt eine neue Abenteuer- und Entdeckungslust, z.B. Flashmobs, Versteckspiel bei IKEA, Urban Knitting. Das Spielerische hat eine hohe Attraktivität. Menschen entdecken, dass sich die Dinge verändern, wenn man mit ihnen spielt und sie anders anschaut. Der Hobbykeller wandert in den öffentlichen Raum: Urban Gardening und Chairbombing. Die Aktionen haben überwiegend einen temporären Charakter und wenig Verbindlichkeit. Am Ende gilt es, die Freiheit auszuhalten.

// Prof. Dr. Michaela Pfadenhauer (Universität Wien) hat das aus soziologischer Sicht untermauert und beobachtet die Auflösung unserer vertrauten Klassen- und Schichtstrukturen, was sie zu einer dezidierten Kritikerin der Sinus-Milieustudien und dem dahinterstehenden Gesellschaftsmodell macht. Sie sieht neue Organisationsformen und Vergemeinschaftungsmuster, die auf ähnlichen Lebenszielen, gleicher Wertschätzung und Abgrenzung sowie gemeinsamen Interaktionszeiträumen beruhen. Wenn früher Gemeinschaften vorgegeben waren, dann hat heute jede/r die Aufgabe, aktiv ständig zum Erhalt der Gemeinschaft beizutragen. Sie muss tätig produziert und reproduziert werden. Das Kriterium für das Engagement ist die Antwort auf die Frage: „Bringt mir das was?“ Was eine Ökonomisierung der Beziehung darstellt. Beispiele für solche posttraditonalen Gemeinschaften sind Nachbarschaftsinitiativen, Brand Communities, Szenen, Expertenzusammenschlüsse oder deterritoriale Gemeinschaften. Ihr Zusammenhalt liegt in der „Verführung“ etwas zu bekommen und beitragen zu können. Es gibt keinen Zwang oder Verpflichtung, noch ein Sanktionspotential. Mitgliedschaften äußern sich durch die Übernahme von Zeichen und Symbolen, durch gemeinsame Rituale und das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Lebensstilästhetik. Solche Gemeinschaften sind imaginäre Gebilde, nicht verortbar oder eingrenzbar, nicht organisatorisch, sondern kultisch vereint, haben kaum Arbeitsteilung und sind nicht auf Dauer eingestellt. Das Paradox des postmodernen Menschen ist aber, dass man beides will: Verlässlichkeit und Unverbindlichkeit. Daher ungebrochen, der Wunsch zu Heiraten. Frustration ist bei den Agenten der Stabilität auszumachen. Sie sind die „Eliten“, die sich als Organisatoren um die Interaktionszeiträume kümmern, als „Prominenz“ die Gemeinschaft repräsentieren oder als Reflektoren zur Mythenbildung beitragen. Sie verwirklichen dabei ihre Leidenschaft und leben eine Selbstverpflichtung. Die spannende Frage am Ende war: Wir brauchen als Menschen Vergemeinschaftung, aber brauchen wir „Gemeinde“? Und was sind dann die Kohäsionskräfte?

// Prof. Dr. Ulrich Engel OP (Institut M.-Dominique Chenu/PTH Münster) führte die Analyse mit Gedanken von Winfried Gebhardt weiter, der die persönliche Spiritualität und Frömmigkeitspraktiken als Folge individualisierter Entscheidungsprozesse ausmachte. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts verweigert die Unterwerfung unter normative Vorgaben der institutionellen Religion, sowie den Anspruch ihrer Führer. Aufschlussreich war der Blick mit Gerhard Lohfink in das Neue Testament der Bibel, das eine Dreierstruktur in der Gemeinschaft kannte: Amt/Apostel – Jünger/innen – Volk. Bisher nicht ausreichend reflektiert ist bis heute die Rolle der Jünger/innen, die alle ein persönliches Berufungserlebnis haben und eine sehr individuelle Form der Nachfolge leben. Die eigentlichen Jünger/innen im Mitgehen Jesu und die uneigentlichen Jünger/innen an ihrem Ort, vgl. Nikodemus, Maria und Marta u.a.. Für eine Ekklesiologie ergeben sich daraus folgende Aspekte: 1. Eine Volkskirche im Untergang kann sich nicht länger auf das Volk stützen. 2. Die „Kinder der Freiheit“ vertrauen heute mehr dem persönlichen Selfempowerment als dem Amt mit seinem Top-Down-Verständnis. 3. Wir müssen die Jünger/innenschaft wieder stark machen, denn sie ist Individualitäts kompatibel, kennt die persönlich Begegnungserfahrung und Entscheidung. 4. Den postmodernen Vergemeinschaftungen entsprechen die eigentlichen und uneigentlichen Jünger/innen und all ihre Hybridformen.

// Ursula Hahmann und Jürgen Maubach (Zeitfenster, Aachen) Und wir waren das Praxisbeispiel der Fachtagung und konnten vieles in unserer Entwicklung und Struktur, unseren Fragen und Herausforderungen wiederentdecken. Die große Freiheit, die Menschen an Zeitfenster schätzen, aber auch unseren Frust als Agenten der Stabilität bei der Organisation von Interaktionszeiträumen. Die spielerische und kreative Lust, den Stadtraum zu nutzen, z.B. bei unseren urbanen Interventionen. Den Wunsch, sich Zeitfenster für die eigene Spiritualität zu schaffen und das selber in die Hand zu nehmen und damit eine neue Art von Jünger/innenschaft zu leben und Kirche von unten aufzubauen. Zeitfenster ist eine Vergemeinschaftungsform von Menschen unterschiedlichen Alters, aber mit gleicher Lebensstilästhetik. Die Struktur und Mitgliedschaft sind fließend, geprägt von einem geteilten Interesse und gleichen Interaktionszeiträumen. Und damit gelingt es uns z.B. bei den Gottesdiensten mit allen, die da sind, wunderbare, erfüllte Momente zu schaffen, die eine Ahnung von dem geben, wonach wir uns sehnen und was uns im Letzten bewegt. Wir sehen für uns eine spannende Zukunft, wenn wir weiter lernen, mit dem temporären Charakter und der geringen Verbindlichkeit zu leben und die Freiheit aushalten.

Zum Weiterlesen

// Hanno Rauterberg, Wir sind die Stadt! – Urbanes Leben in der Digitalmoderne.

// Michaela Pfadenhauer, Posttraditionale Gemeinschaften – Theoretische und ethnografische Erkundungen

// Ulrich Engel OP, Kirche unter leerem Himmel – Skizzen zu einer kenotischen Ekklesiologie für post/moderne Zeiten

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