Impuls #5 zur 40-Tage-Zeit // Zeit zu fliegen
Auch zum Hören:
Impuls #5: „Sei unverschämt“ von Annette Jantzen (MP3)
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Der Rabe spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Heißt es. Griechische Mythologie, indianische Märchen, die Brüder Grimm, nordische Sagen – alle kennen sie die Vögel, die dunkle Geheimnisse verraten, Schuld ans Licht bringen, das perfekte Verbrechen verhindern. Sie hinterbringen Odin Neuigkeiten aus dem ganzen Land, die sie ihm ins Ohr sagen. Sie machen dunkle Vorhersagen, sie wiegen niemanden in Sicherheit.
Ihren Ursprung haben diese Sagen wohl darin, dass Raben als Aasfresser mit kommendem Tod verbunden wurden, etwa in Kriegen, wenn sie auf das Ende der Schlacht warteten, und darin, dass Raben tatsächlich noch besser die menschliche Sprache nachahmen können als Papageien.
Von Odins Raben bis zum Raben Abraxas, der Preusslers kleinen Hexe die Leviten liest, oder bis zum heute in vielen Kinderzimmern so beliebten kleinen Raben Socke, der so gern Kraftausdrücke benutzt: Der Rabe spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und er scheut sich nicht, auch Unangenehmes zu sagen. Er ist im eigentlichen Sinne unverschämt. Keine Schere im Kopf, keine innere Zensur. Kein Drumherumreden.
Unverschämt sein, das könnte ein gutes Ziel sein. Die falsche Scham ablegen. Mich nicht selber begrenzen, mich nicht immer zurücknehmen.
Unverschämt sein: das kann heißen, klar und deutlich zu sagen, was ich will oder brauche.
Ich finde das manchmal gar nicht so leicht, vor allem, weil ich dazu ja erstmal wissen muss, was das eigentlich ist, was ich will oder brauche. Eine klare Bitte ist so viel effektiver als unfruchtbares Gegrummel. Eine offene Auseinandersetzung ist oft schneller beigelegt als beleidigtes Schmollen dauern würde. Unverschämt sein: das kann heißen, bewusst in eine Auseinandersetzung zu gehen, auch wenn ich dafür mein Harmoniebedürfnis überwinden muss. Widerspruch darf sein.
Noch besser ist es, wenn es nicht kippt in den anderen Aspekt des Unverschämt-Seins: Ungefiltertes Drauflospoltern ohne Rücksicht auf Verluste ist NICHT hilfreich. Es gibt nicht nur die zwei Extreme „alles schlucken“ und „alles sagen, egal wie verletzend es ist“. Dazwischen gibt es ein weites Feld, und es lohnt sich, zu erkunden, wie das geht: Von sich selber zu sprechen und konkret zu bleiben, das Gegenüber nicht festzulegen auf „immer machst du“ und andere Kommunikationskiller.
Unverschämt sein, das könnte ein gutes Ziel sein.
Anderen sagen, was ich an ihnen mag, was mich gefreut hat. Ehrliche Komplimente machen und – das ist meistens schwieriger – ein Kompliment annehmen, ohne mich kleiner zu machen und ohne abzuwiegeln.
Unverschämt sein: Das kann auch heißen, dass ich nicht anders sein muss, als ich bin, um liebenswert zu sein. Um von Gott geliebt zu sein. Ich finde das immer wieder eine echt steile Aussage: Mit allen meinen Unzulänglichkeiten, mit allem, was besser laufen könnte, allen meinen Fehlern, mit aller Schuld: Ich bin so schon von Gott geliebt, mit Haut und Haar. Únglaublich: Ich muss nicht vorher noch dies ändern oder das endlich in den Griff kriegen. Das ist erst der zweite Schritt. Aber zuerst steht: Ich darf sein, ohne Scham.
Das ist eine Erfahrung, von der eine berührende Geschichte aus dem Evangelium erzählt:
Eine Frau, die seit 12 Jahren an Blutungen litt, hörte von Jesus, näherte sich in der Menschenmenge und berührte von hinten sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich ihn berühre, und sei es nur sein Gewand, werde ich gesund werden. Im gleichen Augenblick hörte ihr Blut auf zu fließen, und sie spürte an ihrem Körper, dass sie von ihrem Leiden befreit war. Gleichzeitig fühlte auch Jesus an sich, wie die Kraft aus ihm herausfloss, drehte sich in der Menschenmenge um und fragte: Wer hat mich am Gewand berührt? Da sagten seine Jüngerinnen und Jünger zu ihm: Du siehst doch, wie die Menschenmenge sich um dich drängt, und du fragst, wer dich berührt hat? Jesus blickte sich weiter nach der um, die dies getan hatte. Die Frau fürchtete sich und bebte, denn sie hatte begriffen, was mit ihr geschehen war. Sie trat vor, warf sich vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Da antwortete er ihr: Tochter Gottes, dein Vertrauen hat dich gesund gemacht. Gehe hin in Frieden, und sei dauerhaft von deinem Leiden geheilt.
Eine menstruierende Frau war unrein. Um wieviel schlimmer war eine 12 Jahre dauernde Blutung, die die Frau um ihre soziale Stellung brachte, sie isolierte, sie beschämte. Das Blut, das unrein macht und der Grund ist, warum andere sie nicht berühren dürfen, das ist alles, was wir an uns beschämend finden, nicht liebenswert, verachtenswert, was wir glauben verbergen zu müssen. Die Frau überwindet sich und alle Verhaltensregeln, die für sie gelten, und berührt ausgerechnet den Mann, von dem alle sagen, er sei heilig. Sie geht dem nach, was sie braucht. Sie braucht heilenden Kontakt. Zunächst erschleicht sie ihn und berührt Jesus nur heimlich von hinten. Aber auf seine Frage hin – die Menschen um ihn denken, er sei genervt, aber damit liegen sie falsch – auf seine Frage hin offenbart sie sich. Sie überwindet ihre Angst und ihre Scham und erfährt: Sie darf heil sein. Sie ist angenommen, so wie sie ist. Das ist das eigentliche Wunder an der Geschichte.
Diese Erfahrung darf auch ich heute noch machen: Dass ich so sein darf, wie ich bin. Dass ich mich dafür nicht schämen muss, weil Gott mich schon längst liebend ansieht. Heute will ich unverschämt leben.
Annette Jantzen, Zeitfenster Aachen
Wunderbar! Sehr schön beschrieben! Liebe Annette! Auch ich kenne davon was! Herzliche Grüße, Elizabeth